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Die
Flüchtlingspolitik ist das Thema der Gegenwart. Auch eine große Koalition würde
keine Kehrtwende einleiten. Vertreter von Sicherheitsbehörden sind frustriert
und rechnen mit einer weiteren Verschlechterung.
Die
Probleme, die mit der Grenzöffnung im Sommer und Herbst 2015 entstanden, haben
die politische Landschaft der Bundesrepublik Deutschland ins Beben gebracht. Die
Parteien reagieren in ihrer geschäftsführenden Mehrheit und darüber hinaus im
schwarz-rot-grünen Lager mit mehr oder weniger humanitär verbrämter
Vernebelungsstrategie.
Bestes
Beispiel dafür: der Abschnitt zu „Migration und Integration“ im
Sondierungspapier von SPD und Union. Der Text ist genauso unscharf wie die
bisherige Migrationspolitik der Bundesregierung. Die deutsche Politik hat sich
in einem Dilemma verfangen. Das Problem steht wie ein Elefant im politischen
Raum und wird dennoch am liebsten verdrängt oder beschönigt. Aus Angst, dass der
Elefant durch bloße Erwähnung weiterwächst.
Die
sogenannte Flüchtlingskrise hat politische Kollateralbeben ausgelöst, die mit
zweijähriger Verzögerung die festgefügte Parteienstruktur Deutschlands heftig
erschüttert haben. Wohl weil die Migrationswelle nach vorliegenden Statistiken
weniger mit Flucht als mit gezielter Zuwanderung aus den randständigen Regionen
der Welt in das wirtschaftlich florierende Deutschland mit seinem verlockend
ausgestatteten Sozialsystemen zu tun hat.
„Wir
stehen für den Eintritt in eine große
Koalition nicht zur Verfügung – diese Konstellation wurde abgewählt“,
bekannte ein zerknirschter Martin
Schulz nach der Bundestagswahl am
24. September, als die SPD mit 20,5 Prozent der Stimmen das schlechteste
Ergebnis aller Zeiten einfuhr. CDU und CSU erklärten sich zwar mit 32,9 Prozent
zu Siegern. Dass die Klatsche der Wähler mit einem Minus von 8,6 Prozent für die
Union noch heftiger ausfiel, als bei der SPD (minus 5,2 Prozent) wurde nicht so
gerne dazugesagt.
Noch
weniger wurde über den ganz offensichtlichen Grund für das Desaster geredet: die
Entscheidung der Kanzlerin und
ihrer großen Koalition, Deutschlands Grenzen im September 2015 für zunächst
Kriegsflüchtlinge aus Syrien und danach faktisch für alle, die kommen wollten
und wollen, zu öffnen.
Eine
grundlegende Debatte im Bundestag dazu fand bis heute nicht statt. Die geltende
gesetzliche Regelung, dass Asylsuchende, die aus sicheren Drittstaaten in die
Bundesrepublik einreisen, abgewiesen werden müssen, wurde de facto aufgehoben –
ohne jegliche Parlamentsdebatte geschweige denn Gesetzesänderung.
Ausnahmeregelungen, oft mündlich erteilt, mussten reichen. Bis heute.
Alle
Fraktionen hatten ihre Zustimmung zu diesem Verfahren signalisiert, die Medien
kommentierten meist wohlwollend. Barmherzigkeit kennt keine Grenzen, unter
diesem Motto wurden die Realitäten weitgehend ausgeblendet.
Das
Sondierungspapier von CDU/CSU und SPD ist das jüngste Beispiel dafür. Die
Tatsache, dass vor allem die Jungsozialisten dagegen auf die Barrikaden gingen,
zeigt vor allem, dass sie das Papier entweder nicht gelesen oder nicht
verstanden haben. Es ist in Wirklichkeit nichts als heiße Luft. Die Jusos
könnten es ohne Weiteres auf ihre rote Fahne schreiben. Alle dort angedeuteten
Änderungen sind nichts anderes als die Fortschreibung des Status quo.
Dabei
waren die Deutschen – nach anfänglich rauschhafter Begeisterung – angesichts von
teils über 10.000 Menschen, meist muslimischen jungen Männern, die ab 2015
tagtäglich unkontrolliert ins Land strömten – zunehmend verunsichert. Nach den
Silvesterausschreitungen von Köln mit den massenhaften sexuellen Übergriffen
durch nordafrikanische Migrantengruppen, dem Versagen der Polizei in dieser
Nacht, der anfänglichen Sprachlosigkeit in Politik und Medien, wurde aus
Verunsicherung vielfach Verstörung. Und nach den durch angebliche Flüchtlinge
verübten islamistischen Terroranschlägen ab Sommer 2016 in Würzburg, Ansbach und
zuletzt auf einen Weihnachtsmarkt
in Berlin oft pure Angst.
Von keiner
der bis dahin im Bundestag vertretenen Parteien wurde dieser Stimmungswechsel,
die wöchentlich tiefer werdende Spaltung des Landes aufgenommen und zu einem
Politikwechsel, mindestens zu einer schonungslos realistischen Analyse
verarbeitet. Andere profitierten davon.
Vor der
Migrationskrise lag die Alternative für Deutschland in Umfragen bei dürftigen
drei Prozent. Bei der Bundestagswahl
2017 holte sie 12,6 Prozent und zog erstmals in den Bundestag ein.
Dort stellt die AfD mit 92 Abgeordneten die drittstärkste Fraktion. Außerdem ist
sie inzwischen in 14 von 16 Landtagen vertreten. Ein Ergebnis der
Migrationskrise.
„Ich kann
nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssen“, sagte die Kanzlerin nach
ihrem Wahlsieg, der zu einer historischen Niederlage wurde. Immerhin benutzte
sie noch am Wahlabend das Wort „Illegale Migration“ – das aus ihrem Munde bis
dahin kaum jemals gehört wurde.
Die
Jamaika-Sondierungen platzten noch bevor man ernsthaft begann, über das zentrale
Thema „Bekämpfung der illegalen Migration“ zu verhandeln. Und nun steht die
Neuauflage einer ziemlich geschrumpften großen Koalition widerwilliger Partner
auf Messers Schneide – vor allem wegen der die Parteigrenzen überschneidenden
Differenzen in der Migrationsfrage. „Es gibt faktisch eine Obergrenze für
Flüchtlinge, die Lösung zum Familiennachzug ist enttäuschend“, bemängelte
stellvertretend für das No-GroKo-Lager Kevin Kühnert, der Bundeschef der
Jungsozialisten in der SPD, gegenüber WELT.
Die Jusos
im rheinland-pfälzischen Ludwigshafen wurden noch deutlicher. In einem
inzwischen gelöschten Facebook-Eintrag hatte die SPD-Nachwuchsorganisation einen
Satz aus dem Sondierungsergebnis zur Regierungsbildung herauskopiert und die
Passage, in der es um die Einigung auf zentrale Sammelstellen für Asylbewerber –
im Sondierungspapier sperrig „Aufnahme-, Entscheidungs- und
Rückführungseinrichtungen“ genannt – um den Eintrag „KZ“ ergänzt. Dazu die
Erläuterung: „Sondierungspapier in einfacher Sprache“. Die Saarbrücker
Bundestagsabgeordnete Josephine Ortleb erklärte, das Ergebnis sei „mit meinem
Verständnis einer humanitären Flüchtlingspolitik nicht vereinbar“. Und Pascal
Ahrweiler, Chef der Jusos im Saarland, nahm den No-GroKo-Kampf mit Bezug auf die
Asylpolitik ebenfalls entschlossen auf: „Die SPD hat sich in Teilen verraten!“
Dabei ist
das Sondierungsergebnis zwischen Union und SPD bei
näherem Hinsehen im Bereich Zuwanderung alles andere als eindeutig – und alles
andere als eine Kehrtwendung in der verfahrenen Migrationspolitik.
Das Papier
nennt im Gegensatz zu den öffentlich gestreuten Interpretationen an keiner
Stelle eine Obergrenze, sondern stellt lediglich „bezogen auf die
durchschnittlichen Zuwanderungszahlen“ und die „Erfahrungen der letzten 20
Jahre“ ohne jede Verpflichtung und ohne jede Erläuterung die kühne Behauptung
auf, dass die Zuwanderungszahlen „die Spanne von jährlich 180.000 bis 220.000
nicht übersteigen werden“. Was passiert, falls doch, wird vorsichtshalber gar
nicht erwähnt. Zudem bezieht sich das Papier ausdrücklich nur auf jenen Teil der
Zuwanderung, den die möglichen GroKo-Partner für „unmittelbar steuerbar“
erklären.
Der
angeblich nicht unmittelbar steuerbare Teil der Zuwanderung, er macht mit
Asylbewerbern und Geduldeten gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention allerdings
den Löwenanteil der Migration nach
Deutschland aus, ist in dem Sondierungspapier ausdrücklich von Einschränkungen
ausgenommen. Das wollte den CSU-Wählern nur offenbar niemand so richtig
erklären.
Weshalb es
wegen der sprachlichen Unschärfen in der Folge bei Jusos und SPD-Linken zu jenen
Missverständnissen kommen konnte, die dann von CSU-Funktionären gehässig als
„Zwergenaufstand“ beschrieben wurden. Ein eindrucksvoller Ausblick auf das Klima
in einer möglichen Wiederholungs-GroKo. Und ein Beispiel dafür, wie Horst
Seehofers Obergrenze, für die er monatelang wacker kämpfte, im Dschungel der
Definitionen unterging.
Am Anfang
des Migrationskapitels im Sondierungspapier steht ein Glaubensbekenntnis, wie es
so nicht einmal im Entwurf für Jamaika zu lesen war: „Wir bekennen uns strikt
zum Recht auf Asyl und zum Grundwertekatalog im Grundgesetz, zur Genfer
Flüchtlingskonvention, zu den aus dem Recht der EU resultierenden
Verpflichtungen zur Bearbeitung jedes Asylantrags sowie zur
UN-Kinderrechtskonvention.“ Im Klartext bedeutet der Verweis auf EU-Recht, dass
alle GroKo-Partner das deutsche Recht, das eine Zurückweisung von Asylsuchenden,
die aus sogenannten sicheren Drittstaaten einreisen, zwingend vorsieht, wie
bisher nicht beachten wollen. In Artikel 16a des Grundgesetzes heißt es
unmissverständlich:
(1)
Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
(2) Auf
Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen
Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung
des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum
Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist.
Da
Deutschland ausschließlich von solchen Staaten umgeben ist, kann sich nach
deutschem Recht zwangsläufig kein Zuwanderer, der auf dem Landweg einreist, auf
das Asylrecht berufen. Beachtet wird dieser Teil des Grundgesetzes von der dafür
verantwortlichen Bundesregierung allerdings seit mehr als zwei Jahren nicht;
seit einer entsprechenden mündlichen Anweisung von Innenminister Thomas de
Maizière an die für den Grenzschutz zuständige Bundespolizei im September 2015.
Schriftlich gibt es diese Anweisung zur Nichtbeachtung bestehender Gesetze
nicht. Verfassungsminister de Maizière seinerseits hatte sich zuvor telefonisch
bei der Kanzlerin rückversichert. Trotz entsprechender Warnungen auch der
Juristen des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages hält dieser Zustand bis
heute unverändert an.
Die CSU in
Bayern, das im heißen Herbst 2015 die Hauptlast der Zuwanderung zu tragen hatte,
versuchte die Kanzlerin zur Kurskorrektur zu bewegen. Parteichef und
Ministerpräsident Seehofer gab dazu ein juristisches Gutachten in Auftrag. Udo
Di Fabio, ehemals langjähriger Richter am Bundesverfassungsgericht, kam zu dem
Schluss, dass der Bund „aus verfassungsrechtlichen Gründen“ verpflichtet sei,
„wirksame Kontrollen der Bundesgrenzen wiederaufzunehmen, wenn das gemeinsame
europäische Grenzsicherungs- und Einwanderungssystem vorübergehend oder
dauerhaft gestört ist“.
Er stellte
klar, dass zwar das Grundgesetz jedem Menschen, der sich auf dem Gebiet der
Bundesrepublik Deutschland befindet, eine menschenwürdige Behandlung zusichert,
aber das Grundgesetz garantiere eben nicht den Schutz aller Menschen weltweit
durch faktische oder rechtliche Einreiseerlaubnis. „Eine solche unbegrenzte
Rechtspflicht besteht auch weder europarechtlich noch völkerrechtlich“, schrieb
Di Fabio in seinem Gutachten.
Seehofer drohte mit einer
Verfassungsklage Bayerns gegen die Bundesregierung. Doch als die Kanzlerin nicht
nachgab, zuckte Seehofer zurück. Das brisante Gutachten verschwand in der
Schublade. Die Verfassungsmäßigkeit der Politik der offenen Grenzen wurde
deshalb nie vor dem Verfassungsgericht geklärt.
Allerdings
fällte das Oberlandesgericht Koblenz am 14. Februar 2017 in einem Verfahren, bei
dem es um einen angeblich minderjährigen unbegleiteten Flüchtling aus Gambia
ging, ein denkwürdiges Urteil über die Bundesregierung. Zitat aus dem Urteil des
1. Senats (Aktenzeichen 13 UF 32/17): „Zwar hat sich der Betroffene durch seine
unerlaubte Einreise in die Bundesrepublik nach §§ 95 Abs. 1 Nr. 3, 14 Abs. 1 Nr.
1, 2 AufenthG (Aufenthaltsgesetz, die Red.) strafbar gemacht. Denn er kann sich
weder auf § 15 Abs. 4 Satz 2 AufenthG noch auf § 95 Abs. 5 AufenthG i.V.m. (in
Verbindung mit, die Red.) Art. 31 Abs. 1 GFK (Genfer Flüchtlingskonvention, die
Red.) berufen. Die rechtsstaatliche Ordnung in der Bundesrepublik ist in diesem
Bereich jedoch seit rund eineinhalb Jahren außer Kraft gesetzt und die illegale
Einreise ins Bundesgebiet wird momentan de facto nicht mehr strafrechtlich
verfolgt.“
Das im
aktuellen GroKo-Sondierungspapier zitierte EU-Recht sieht dagegen völlig anders
aus als das deutsche, von der Regierung geflissentlich missachtete Gesetzeswerk:
Es kennt zwar in der Theorie das in den sogenannten Dublin-Verträgen ebenfalls
festgelegte Verbot der Asylzuwanderung aus sicheren Drittstaaten, verpflichtet
aber einen Staat, in den ein Schutzsuchender aus irgendwelchen Gründen illegal
gelangt ist, dessen Asylantrag zunächst im eigenen Land zu prüfen und ihn erst
danach in das EU-Land, in das er zuerst eingereist war, zurückzuschicken. Ein
Verfahren, das in der EU-Praxis allerdings so gut wie immer scheitert. In
Deutschland seit September 2015 schon an die 1,4 Millionen Mal. Aus der Ausnahme
wurde die Regel.
Ein
Zustand, der von den Sicherheitsbehörden des Landes anhaltend kritisch beurteilt
wird. Gerade auch in den Reihen der verhinderten Grenzschützer von der
Bundespolizei. Eine kleine Armee mit 35.000 Polizisten, 84 Hubschraubern, 17
Schiffen und Booten, gepanzerten Fahrzeugen, 250 Spezialkräften und zusätzlich
der für den Antiterrorkampf trainierten GSG 9 mit einer geheim gehaltenen Zahl
von Elitepolizisten. Die Bundespolizei hatte sich auf Befehl des
Bundesinnenministeriums auf die am 13. September 2015 vorgesehene Kontrolle der
Grenze nach Österreich inklusive Zurückweisung illegaler Migranten detailliert
vorbereitet.
Über diese
Grenze kamen und kommen die meisten. Die demonstrative Grenzschließung hätte
einen Dominoeffekt in Richtung Süden bewirken sollen. Österreich, Italien und
vor allem die Länder auf der sogenannten Balkanroute, so der Plan, hätten
ihrerseits ihre Grenzen kontrolliert und die bis dahin übliche Praxis des
Durchwinkens der Migranten nach Norden beendet.
Die Zuwanderungswelle wäre
an den EU-Außengrenzen gestoppt worden. So, wie es die seit 2015 ignorierten
Dublin-Regeln der Europäischen Union eigentlich vorsahen – und immer noch
vorsehen. Und so, wie es mit der gegen den Willen von Kanzlerin und
Bundesregierung erfolgten Grenzschließung in Mazedonien ab Februar 2016 und mit
dem von Angela Merkel im März desselben Jahres eingefädelten und mit sechs
Milliarden Euro erkauften Flüchtlingsdeal mit der Türkei zumindest teilweise
erreicht wurde.
2017 kamen
daher „nur“ 187.000 Asylsuchende nach Deutschland. Eine Zahl, die Innenminister
de Maizière am Dienstag stolz verkündete. Eine Zahl, die erstaunlich genau
unterhalb der von der CSU seit Langem geforderten Obergrenze von 200.000
Migranten liegt. Eine Zahl, die jedoch der Einwohnerschaft einer Stadt wie Mainz
entspricht. Jedes Jahr. Mit Einwohnern, die überwiegend muslimisch, jung und
männlich sind, die die deutsche Sprache und Kultur nicht kennen und in der
Mehrzahl über nur geringe Bildung oder berufliche Qualifikation verfügen.
200.000 Menschen, die meist kommen, um zu bleiben, die Wohnungen, Schulplätze
und Arbeitsstellen benötigen und die früher oder später das Recht auf Nachholung
ihrer Angehörigen wahrnehmen werden. Jedes Jahr. Zusätzlich zu den 1,4 Millionen
Migranten, die seit 2015 gekommen sind.
Und nicht
nur diese Zahlen, auch die demografische und religiöse Struktur der Zuwanderer
sind Faktoren. Generell gilt, dass etwa 80 Prozent der seit Herbst 2015 nach
Deutschland kommenden Zuwanderer Muslime sind.
Die meisten von ihnen sind männlich. Detaillierte Zahlen für 2017 hat das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit Stand Ende November
veröffentlicht. In diesem Zeitraum wurden fast 185.000 Asylerstanträge erfasst.
112.000 davon von Jungen und Männern, was einem Anteil von 60,6 Prozent
entspricht.
Von diesen
männlichen Zuwanderern sind 95.400 unter 35 Jahre alt: ein Anteil von 85,2
Prozent. Die größte Gruppe bilden die 18- bis 25-Jährigen mit einem Anteil von
13,7 Prozent aller Zuwanderer. Zum Vergleich: In der Gesamtbevölkerung
Deutschlands lag der Anteil junger Männer inklusive bereits länger hier lebender
Migranten zwischen 18 und 24 Jahren bei etwa 3,8 Prozent. Da junge Männer
bekanntlich die gefährlichste Spezies der Welt sind, ist schon jetzt abzusehen,
was das für die Entwicklung der Gesellschaft bedeutet.
Zweieinhalb Jahre nach Beginn der Krise machen sich die Folgen der
unkontrollierten Einwanderung nun auch im realen Alltag verstärkt bemerkbar: in
den Kitas, den Schulen, in der Kriminalitätsstatistik, in den Schlangen der
Hartz-IV-Center, auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt. Gerade auf dem in
Großstädten schon jetzt extrem überhitzten Mietsektor konkurrieren die noch
immer von der Politik meist „Flüchtlinge“ genannten Menschen unmittelbar mit der
Kernwählerschaft von Sozialdemokraten und Linkspartei um die wenigen staatlich
subventionierten Wohnungen.
Die
Parteienlandschaft ist als Folge der Migrationsdebatte eher unübersichtlich
geworden. Kein Wunder, dass alle geradezu panische Angst vor Neuwahlen haben, in
denen die Migrationsfrage erneut das inoffizielle Thema Nummer eins wäre.
Etwa die
Tatsache, dass von den seit 2015 ins Land gekommenen 1,4 Millionen Zuwanderern
weniger als ein Prozent Asyl als „politisch Verfolgte“ entsprechend den
Bestimmungen des Grundgesetzes erhalten haben. Alle anderen wurden und werden
nach den Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention oder aus anderen
humanitären Gründen aufgenommen, klagen gegen mit vom Staat bezahlten Anwälten
und vom Staat bezahlten Gerichtsverfahren durch die Instanzen gegen abgelehnte
Asylbescheide, erhalten für die Verfahrensdauer sogenannte Duldungen und werden
oft nicht abgeschoben, weil sie ihre Herkunft verschleiern oder die
Herkunftsländer die Rücknahme ihrer Bürger verweigern.
Am Ende
können sie meist so lange in Deutschland bleiben, wie sie wollen. Aus dem gut
gemeinten und im Grundgesetz verankerten Asylrecht wurde so de facto ein
Einwanderungsrecht für jeden.
Über
250.000 Migranten sind derzeit in Deutschland eigentlich ausreisepflichtig, weil
ihre Asylanträge abgelehnt wurden. Die Mehrzahl von ihnen verfügt über eine
„Duldung“, die regelmäßig erneuert wird. Nach Abschluss der noch ausstehenden
Asylentscheidungen aus der Zuwanderungswelle seit 2015 werden nach internen
Prognosen der Bundespolizei in diesem Jahr voraussichtlich 250.000 weitere
Ausreisepflichtige hinzukommen.
„Das ist
eine halbe Million abzuschiebende Ausländer bei derzeit exakt 398
Abschiebehaftplätzen in ganz Deutschland“, klagt ein hoher Beamter der
Bundespolizei, der nach zahlreichen Maulkorbanweisungen aus dem
Bundesinnenministerium lieber anonym bleiben möchte, im Gespräch mit WELT AM
SONNTAG. „Das macht doch den ganzen Irrsinn der derzeitigen Situation deutlich.“
In Berlin
und Brandenburg gebe es aus politischen Gründen keinen einzigen
Abschiebehaftplatz. „Dabei verlassen uns nur die Wenigsten freiwillig“, weiß der
gelernte Grenzschützer aus seiner Praxis. Für das vergangene Jahr weist das
Bundesinnenministerium trotz Erhöhungsversprechen der Kanzlerin gerade 26.000 Abschiebungen und
30.000 freiwillige Ausreisen aus. Weniger als im Jahr zuvor.
Auf Wunsch
vor allem der CSU hat die Union immerhin den Satz in die Sondierungen
geschrieben, dass man nicht mehr als 1000 Menschen pro Monat, also 12.000 im
Jahr, den Familiennachzug gewähren
wolle. Wie das angesichts einschlägiger, entgegenstehender völkerrechtlicher
Verpflichtungen – etwa der UN-Kinderrechtskonvention und der Europäischen
Menschenrechtskonvention – auf Dauer umgesetzt werden soll, erläutert das Papier
nicht. Auch dazu, dass das Bundesinnenministerium in internen Berechnungen von
derzeit bereits 680.000 Zuwanderern in Deutschland ausgeht, die einen solchen
Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung besitzen, findet sich in dem Papier
kein Wort.
Dafür gibt
es wolkige Phrasen im Überfluss. „Wir wollen die Fluchtursachen bekämpfen, nicht
die Flüchtlinge“, halten die GroKo-Aspiranten auf Seite 20 ihres
Sondierungsberichts fest. Und sie wissen dort auch schon ganz genau, wie das
funktioniert: durch mehr Engagement für Friedenssicherung, verstärkten
Klimaschutz und restriktive Rüstungsexportpolitik und, nicht zu vergessen,
natürlich durch Einrichtung einer Kommission im Bundestag.
Die triste
Realität sieht so aus, dass die Bundespolizei nur an der 800 Kilometer langen
Grenze zu Österreich als
einziger der insgesamt neun deutschen Landgrenzen regelmäßige Kontrollen
durchführen darf. Dazu gibt es Überprüfungen an drei Autobahnübergängen und
weitere stichprobenartige Kontrollen von mutmaßlichen Schleuserfahrzeugen an
einzelnen weiteren, wechselnden Punkten in einem Bereich bis zu 30 Kilometer
landeinwärts der deutschen Grenze. „De facto ist diese Grenze trotz unserer
Präsenz völlig offen“, klagt der Polizeiführer.
500 bis
800 illegale Zuwanderer würden dort Tag für Tag dennoch von den Bundespolizisten
aufgegriffen. 80 Prozent von ihnen behaupteten, keinerlei Pässe oder andere
Identitätsnachweise bei sich zu haben. „Aber sobald sie das Zauberwort Asyl
sagen, dürfen wir sie auf Weisung des Bundesinnenministers nicht zurückweisen,
obwohl die deutschen Gesetze das verlangen“, berichtet der Beamte frustriert.
Die
Zuwanderer werden von der Bundespolizei mit den Personalien, die sie angeben,
registriert, ihre Fingerabdrücke und Fotos werden genommen, danach werden sie in
Erstaufnahmeeinrichtungen gebracht. Nur etwa 20 bis 30 jener 500 bis 800 täglich
aufgegriffenen Migranten äußerten gegenüber den Bundespolizisten keinen Wunsch
nach Asyl, zitiert der Beamte aus internen Statistiken.
Vermutlich
weil sie von ihren Schleusern nicht richtig instruiert worden seien. „Diese 20
bis 30 dürfen wir abweisen und nach Österreich zurückbringen“, sagt der Beamte
im Gespräch mit WELT AM SONNTAG. „Danach ziehen die meisten von denen
wahrscheinlich nach Westen weiter und kommen einfach über die Schweiz nach
Deutschland, dort dürfen wir nicht kontrollieren“, fügt der Polizeiführer
resigniert hinzu.
Nach den
internen Aufstellungen der Bundespolizei, die diese nicht an die Öffentlichkeit
geben darf, „greifen wir bei unseren Kontrollen maximal 25 Prozent der illegalen
Zuwanderer ab“, rechnet der Beamte vor. „Wir bekommen an einem einzigen Tag mehr
neue Zuwanderer nach Deutschland hinein, als wir im ganzen Monat aus Deutschland
hinausbekommen“, betont der Polizist, der jeden Tag die Lagemeldungen aus allen
Bundespolizeidirektionen auf den Schreibtisch bekommt, „und diese Entwicklung
wird auch nach dem jetzigen Sondierungsstand unverändert bleiben.“
In der
Führung der Bundespolizei herrsche
die übereinstimmende Erkenntnis, dass die im vorliegenden
GroKo-Sondierungspapier und auch schon bei Jamaika anstelle von Zurückweisungen
an der Grenze favorisierten Rückführungen aus den „Anker-Zentren“ genannten
Sammelstellen für Asylbewerber im Landesinneren in der Praxis nicht
funktionieren werden. „Das ist schon rechnerisch, aber auch rechtlich völliger
Schwachsinn“, formuliert es der hohe Beamte drastisch, das wisse man sowohl im
Innenministerium als auch bei den GroKo-Sondierern ganz genau. Die Bevölkerung
werde schlicht für dumm verkauft.
Schon die
offiziell derzeit etwa 15.000 Zuwanderer im Monat ließen sich nicht ohne Zwang
in diesen vereinbarten zentralen Aufnahmestellen festhalten. Erst recht nicht,
wenn sie aus jenen Ländern kämen, deren Bürger kaum Aussicht auf Asyl haben, wie
aus Marokko oder Tunesien. „Sollen diese Zentren umzäunt werden? Werden sie neu
gebaut? Wie lange soll das dauern? Was ist mit den bald 500.000
ausreisepflichtigen Altfällen? Sollen die auch in diese Zentren?“, fragt der
Beamte und schüttelt zornig den Kopf.
„Wenn man
die Leute nicht festhält, machen diese Zentren keinen Sinn. Um sie festzuhalten,
brauchen Sie nach der Rechtslage ab dem zweiten Tag einen haftrichterlichen
Beschluss. In jedem Einzelfall. Es ist völlig ausgeschlossen, dass das jemals
umgesetzt werden kann.“ Nicht bei 15.000 Neuzugängen im Monat. Erst recht nicht
bei 500.000 Altfällen. Ohne Zurückweisungen an der Grenze gehe es schlicht
nicht: „Wer die Grenze aufgibt, kann die innere Sicherheit nicht gewährleisten,
der gibt am Ende das Land auf.“
Bei der
möglichen GroKo 2.0 klingt das im Sondierungspapier etwas anders: „Wir treten
ein für ein gemeinsames europäisches Asylsystem einschließlich eines fairen
Verteilmechanismus für Schutzbedürftige.“ Und dieses beschriebene gemeinsame
EU-Asylsystem ist gerade erst – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt –
einen wichtigen Schritt vorangekommen. Am 16. November hat das Europaparlament
in Straßburg einer Reform der seit Jahren ignorierten Dublin-Regeln zur
Migrantenverteilung zugestimmt – und die Schleusen noch weiter aufgemacht. Mit
den Stimmen auch von deutschen EU-Abgeordneten aus CSU, CDU und
SPD. Die sächsische EU-Parlamentarierin der Linken, Cornelia Ernst, hatte die
Neuregelung im Bürgerrechtsausschuss mit ausgehandelt. Sie freut sich seither
auf ihrer Homepage über „die ambitionierteste Parlamentsposition in der
Asylpolitik, die je beschlossen wurde“.
Die
Kernpunkte der Änderungen haben es gerade für Deutschland, das Hauptziel der
Masseneinwanderung, in sich. Die Drittstaatenregelung wird gestrichen. Bei jedem
Zuwanderer, der eine besondere Beziehung zu einem EU-Staat –
zum Beispiel Deutschland – besitzt oder dort Angehörige hat, wird dieser Staat
automatisch zuständig für den Asylantrag. Eine Überprüfung ist vorab nicht
vorgesehen. Die bloße Behauptung des Asylbewerbers, zum Beispiel in Deutschland
Angehörige zu haben, genügt als Beleg.
Künftig
sollen zudem – um die schon vor Aufbruch aus dem Heimatland bestehenden oder auf
der Anreise nach Europa entstandenen sozialen Beziehungen der Migranten nicht zu
beeinträchtigen – Asylbewerber ihre Anträge in Gruppen von bis zu 30 Personen
stellen dürfen. Falls Beziehungen in ein bestimmtes Land, zum Beispiel
Deutschland bestehen, eben in Großgruppen dort. Jetzt muss noch der Europäische
Rat diesem Beschluss des EU-Parlaments zustimmen, bevor er rechtskräftig wird.
Das scheint schon auf gutem Weg zu sein, denn in dem Abschlusspapier der
GroKo-Sondierer ist verdächtig oft die Rede von „EU-Recht, das zu beachten sei“,
ohne ins Detail zu gehen.
Doch auch
deutsche Politiker und Parteien werden sich auf Dauer nicht hinter hehren
Absichten und komplizierten juristischen Konstruktionen verstecken können. Die
Realitäten zu verleugnen kann auf Dauer nicht gut gehen. Nicht in
Sondierungsgesprächen, nicht in Koalitionsverhandlungen und schon gar nicht in
der Regierungspraxis.
Und in Wahlen erst recht nicht.