Ausgeblendete Realitäten

Von Stefan Aust, Helmar Büchel | Stand: 10:11 Uhr | Lesedauer: 18 Minuten

Die Flüchtlingspolitik ist das Thema der Gegenwart. Auch eine große Koalition würde keine Kehrtwende einleiten. Vertreter von Sicherheitsbehörden sind frustriert und rechnen mit einer weiteren Verschlechterung.

 

Die Probleme, die mit der Grenzöffnung im Sommer und Herbst 2015 entstanden, haben die politische Landschaft der Bundesrepublik Deutschland ins Beben gebracht. Die Parteien reagieren in ihrer geschäftsführenden Mehrheit und darüber hinaus im schwarz-rot-grünen Lager mit mehr oder weniger humanitär verbrämter Vernebelungsstrategie.

Bestes Beispiel dafür: der Abschnitt zu „Migration und Integration“ im Sondierungspapier von SPD und Union. Der Text ist genauso unscharf wie die bisherige Migrationspolitik der Bundesregierung. Die deutsche Politik hat sich in einem Dilemma verfangen. Das Problem steht wie ein Elefant im politischen Raum und wird dennoch am liebsten verdrängt oder beschönigt. Aus Angst, dass der Elefant durch bloße Erwähnung weiterwächst.

Die sogenannte Flüchtlingskrise hat politische Kollateralbeben ausgelöst, die mit zweijähriger Verzögerung die festgefügte Parteienstruktur Deutschlands heftig erschüttert haben. Wohl weil die Migrationswelle nach vorliegenden Statistiken weniger mit Flucht als mit gezielter Zuwanderung aus den randständigen Regionen der Welt in das wirtschaftlich florierende Deutschland mit seinem verlockend ausgestatteten Sozialsystemen zu tun hat.

„Wir stehen für den Eintritt in eine große Koalition nicht zur Verfügung – diese Konstellation wurde abgewählt“, bekannte ein zerknirschter Martin Schulz nach der Bundestagswahl am 24. September, als die SPD mit 20,5 Prozent der Stimmen das schlechteste Ergebnis aller Zeiten einfuhr. CDU und CSU erklärten sich zwar mit 32,9 Prozent zu Siegern. Dass die Klatsche der Wähler mit einem Minus von 8,6 Prozent für die Union noch heftiger ausfiel, als bei der SPD (minus 5,2 Prozent) wurde nicht so gerne dazugesagt.

Noch weniger wurde über den ganz offensichtlichen Grund für das Desaster geredet: die Entscheidung der Kanzlerin und ihrer großen Koalition, Deutschlands Grenzen im September 2015 für zunächst Kriegsflüchtlinge aus Syrien und danach faktisch für alle, die kommen wollten und wollen, zu öffnen.

Eine grundlegende Debatte im Bundestag dazu fand bis heute nicht statt. Die geltende gesetzliche Regelung, dass Asylsuchende, die aus sicheren Drittstaaten in die Bundesrepublik einreisen, abgewiesen werden müssen, wurde de facto aufgehoben – ohne jegliche Parlamentsdebatte geschweige denn Gesetzesänderung. Ausnahmeregelungen, oft mündlich erteilt, mussten reichen. Bis heute.

Alle Fraktionen hatten ihre Zustimmung zu diesem Verfahren signalisiert, die Medien kommentierten meist wohlwollend. Barmherzigkeit kennt keine Grenzen, unter diesem Motto wurden die Realitäten weitgehend ausgeblendet.

Nichts als heiße Luft

Das Sondierungspapier von CDU/CSU und SPD ist das jüngste Beispiel dafür. Die Tatsache, dass vor allem die Jungsozialisten dagegen auf die Barrikaden gingen, zeigt vor allem, dass sie das Papier entweder nicht gelesen oder nicht verstanden haben. Es ist in Wirklichkeit nichts als heiße Luft. Die Jusos könnten es ohne Weiteres auf ihre rote Fahne schreiben. Alle dort angedeuteten Änderungen sind nichts anderes als die Fortschreibung des Status quo.

Dabei waren die Deutschen – nach anfänglich rauschhafter Begeisterung – angesichts von teils über 10.000 Menschen, meist muslimischen jungen Männern, die ab 2015 tagtäglich unkontrolliert ins Land strömten – zunehmend verunsichert. Nach den Silvesterausschreitungen von Köln mit den massenhaften sexuellen Übergriffen durch nordafrikanische Migrantengruppen, dem Versagen der Polizei in dieser Nacht, der anfänglichen Sprachlosigkeit in Politik und Medien, wurde aus Verunsicherung vielfach Verstörung. Und nach den durch angebliche Flüchtlinge verübten islamistischen Terroranschlägen ab Sommer 2016 in Würzburg, Ansbach und zuletzt auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin oft pure Angst.

Von keiner der bis dahin im Bundestag vertretenen Parteien wurde dieser Stimmungswechsel, die wöchentlich tiefer werdende Spaltung des Landes aufgenommen und zu einem Politikwechsel, mindestens zu einer schonungslos realistischen Analyse verarbeitet. Andere profitierten davon.

Vor der Migrationskrise lag die Alternative für Deutschland in Umfragen bei dürftigen drei Prozent. Bei der Bundestagswahl 2017 holte sie 12,6 Prozent und zog erstmals in den Bundestag ein. Dort stellt die AfD mit 92 Abgeordneten die drittstärkste Fraktion. Außerdem ist sie inzwischen in 14 von 16 Landtagen vertreten. Ein Ergebnis der Migrationskrise.

„Ich kann nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssen“, sagte die Kanzlerin nach ihrem Wahlsieg, der zu einer historischen Niederlage wurde. Immerhin benutzte sie noch am Wahlabend das Wort „Illegale Migration“ – das aus ihrem Munde bis dahin kaum jemals gehört wurde.

Die Jamaika-Sondierungen platzten noch bevor man ernsthaft begann, über das zentrale Thema „Bekämpfung der illegalen Migration“ zu verhandeln. Und nun steht die Neuauflage einer ziemlich geschrumpften großen Koalition widerwilliger Partner auf Messers Schneide – vor allem wegen der die Parteigrenzen überschneidenden Differenzen in der Migrationsfrage. „Es gibt faktisch eine Obergrenze für Flüchtlinge, die Lösung zum Familiennachzug ist enttäuschend“, bemängelte stellvertretend für das No-GroKo-Lager Kevin Kühnert, der Bundeschef der Jungsozialisten in der SPD, gegenüber WELT.

Die Jusos im rheinland-pfälzischen Ludwigshafen wurden noch deutlicher. In einem inzwischen gelöschten Facebook-Eintrag hatte die SPD-Nachwuchsorganisation einen Satz aus dem Sondierungsergebnis zur Regierungsbildung herauskopiert und die Passage, in der es um die Einigung auf zentrale Sammelstellen für Asylbewerber – im Sondierungspapier sperrig „Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen“ genannt – um den Eintrag „KZ“ ergänzt. Dazu die Erläuterung: „Sondierungspapier in einfacher Sprache“. Die Saarbrücker Bundestagsabgeordnete Josephine Ortleb erklärte, das Ergebnis sei „mit meinem Verständnis einer humanitären Flüchtlingspolitik nicht vereinbar“. Und Pascal Ahrweiler, Chef der Jusos im Saarland, nahm den No-GroKo-Kampf mit Bezug auf die Asylpolitik ebenfalls entschlossen auf: „Die SPD hat sich in Teilen verraten!“

Obergrenze im Dschungel der Definitionen untergegangen

Dabei ist das Sondierungsergebnis zwischen Union und SPD bei näherem Hinsehen im Bereich Zuwanderung alles andere als eindeutig – und alles andere als eine Kehrtwendung in der verfahrenen Migrationspolitik.

Das Papier nennt im Gegensatz zu den öffentlich gestreuten Interpretationen an keiner Stelle eine Obergrenze, sondern stellt lediglich „bezogen auf die durchschnittlichen Zuwanderungszahlen“ und die „Erfahrungen der letzten 20 Jahre“ ohne jede Verpflichtung und ohne jede Erläuterung die kühne Behauptung auf, dass die Zuwanderungszahlen „die Spanne von jährlich 180.000 bis 220.000 nicht übersteigen werden“. Was passiert, falls doch, wird vorsichtshalber gar nicht erwähnt. Zudem bezieht sich das Papier ausdrücklich nur auf jenen Teil der Zuwanderung, den die möglichen GroKo-Partner für „unmittelbar steuerbar“ erklären.

Der angeblich nicht unmittelbar steuerbare Teil der Zuwanderung, er macht mit Asylbewerbern und Geduldeten gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention allerdings den Löwenanteil der Migration nach Deutschland aus, ist in dem Sondierungspapier ausdrücklich von Einschränkungen ausgenommen. Das wollte den CSU-Wählern nur offenbar niemand so richtig erklären.

Weshalb es wegen der sprachlichen Unschärfen in der Folge bei Jusos und SPD-Linken zu jenen Missverständnissen kommen konnte, die dann von CSU-Funktionären gehässig als „Zwergenaufstand“ beschrieben wurden. Ein eindrucksvoller Ausblick auf das Klima in einer möglichen Wiederholungs-GroKo. Und ein Beispiel dafür, wie Horst Seehofers Obergrenze, für die er monatelang wacker kämpfte, im Dschungel der Definitionen unterging.

Am Anfang des Migrationskapitels im Sondierungspapier steht ein Glaubensbekenntnis, wie es so nicht einmal im Entwurf für Jamaika zu lesen war: „Wir bekennen uns strikt zum Recht auf Asyl und zum Grundwertekatalog im Grundgesetz, zur Genfer Flüchtlingskonvention, zu den aus dem Recht der EU resultierenden Verpflichtungen zur Bearbeitung jedes Asylantrags sowie zur UN-Kinderrechtskonvention.“ Im Klartext bedeutet der Verweis auf EU-Recht, dass alle GroKo-Partner das deutsche Recht, das eine Zurückweisung von Asylsuchenden, die aus sogenannten sicheren Drittstaaten einreisen, zwingend vorsieht, wie bisher nicht beachten wollen. In Artikel 16a des Grundgesetzes heißt es unmissverständlich:

(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.

(2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist.

Da Deutschland ausschließlich von solchen Staaten umgeben ist, kann sich nach deutschem Recht zwangsläufig kein Zuwanderer, der auf dem Landweg einreist, auf das Asylrecht berufen. Beachtet wird dieser Teil des Grundgesetzes von der dafür verantwortlichen Bundesregierung allerdings seit mehr als zwei Jahren nicht; seit einer entsprechenden mündlichen Anweisung von Innenminister Thomas de Maizière an die für den Grenzschutz zuständige Bundespolizei im September 2015.

Schriftlich gibt es diese Anweisung zur Nichtbeachtung bestehender Gesetze nicht. Verfassungsminister de Maizière seinerseits hatte sich zuvor telefonisch bei der Kanzlerin rückversichert. Trotz entsprechender Warnungen auch der Juristen des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages hält dieser Zustand bis heute unverändert an.

Gutachten verschwand in der Schublade

Die CSU in Bayern, das im heißen Herbst 2015 die Hauptlast der Zuwanderung zu tragen hatte, versuchte die Kanzlerin zur Kurskorrektur zu bewegen. Parteichef und Ministerpräsident Seehofer gab dazu ein juristisches Gutachten in Auftrag. Udo Di Fabio, ehemals langjähriger Richter am Bundesverfassungsgericht, kam zu dem Schluss, dass der Bund „aus verfassungsrechtlichen Gründen“ verpflichtet sei, „wirksame Kontrollen der Bundesgrenzen wiederaufzunehmen, wenn das gemeinsame europäische Grenzsicherungs- und Einwanderungssystem vorübergehend oder dauerhaft gestört ist“.

Er stellte klar, dass zwar das Grundgesetz jedem Menschen, der sich auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland befindet, eine menschenwürdige Behandlung zusichert, aber das Grundgesetz garantiere eben nicht den Schutz aller Menschen weltweit durch faktische oder rechtliche Einreiseerlaubnis. „Eine solche unbegrenzte Rechtspflicht besteht auch weder europarechtlich noch völkerrechtlich“, schrieb Di Fabio in seinem Gutachten.

Seehofer drohte mit einer Verfassungsklage Bayerns gegen die Bundesregierung. Doch als die Kanzlerin nicht nachgab, zuckte Seehofer zurück. Das brisante Gutachten verschwand in der Schublade. Die Verfassungsmäßigkeit der Politik der offenen Grenzen wurde deshalb nie vor dem Verfassungsgericht geklärt.

Allerdings fällte das Oberlandesgericht Koblenz am 14. Februar 2017 in einem Verfahren, bei dem es um einen angeblich minderjährigen unbegleiteten Flüchtling aus Gambia ging, ein denkwürdiges Urteil über die Bundesregierung. Zitat aus dem Urteil des 1. Senats (Aktenzeichen 13 UF 32/17): „Zwar hat sich der Betroffene durch seine unerlaubte Einreise in die Bundesrepublik nach §§ 95 Abs. 1 Nr. 3, 14 Abs. 1 Nr. 1, 2 AufenthG (Aufenthaltsgesetz, die Red.) strafbar gemacht. Denn er kann sich weder auf § 15 Abs. 4 Satz 2 AufenthG noch auf § 95 Abs. 5 AufenthG i.V.m. (in Verbindung mit, die Red.) Art. 31 Abs. 1 GFK (Genfer Flüchtlingskonvention, die Red.) berufen. Die rechtsstaatliche Ordnung in der Bundesrepublik ist in diesem Bereich jedoch seit rund eineinhalb Jahren außer Kraft gesetzt und die illegale Einreise ins Bundesgebiet wird momentan de facto nicht mehr strafrechtlich verfolgt.“

Das im aktuellen GroKo-Sondierungspapier zitierte EU-Recht sieht dagegen völlig anders aus als das deutsche, von der Regierung geflissentlich missachtete Gesetzeswerk: Es kennt zwar in der Theorie das in den sogenannten Dublin-Verträgen ebenfalls festgelegte Verbot der Asylzuwanderung aus sicheren Drittstaaten, verpflichtet aber einen Staat, in den ein Schutzsuchender aus irgendwelchen Gründen illegal gelangt ist, dessen Asylantrag zunächst im eigenen Land zu prüfen und ihn erst danach in das EU-Land, in das er zuerst eingereist war, zurückzuschicken. Ein Verfahren, das in der EU-Praxis allerdings so gut wie immer scheitert. In Deutschland seit September 2015 schon an die 1,4 Millionen Mal. Aus der Ausnahme wurde die Regel.

Ein Zustand, der von den Sicherheitsbehörden des Landes anhaltend kritisch beurteilt wird. Gerade auch in den Reihen der verhinderten Grenzschützer von der Bundespolizei. Eine kleine Armee mit 35.000 Polizisten, 84 Hubschraubern, 17 Schiffen und Booten, gepanzerten Fahrzeugen, 250 Spezialkräften und zusätzlich der für den Antiterrorkampf trainierten GSG 9 mit einer geheim gehaltenen Zahl von Elitepolizisten. Die Bundespolizei hatte sich auf Befehl des Bundesinnenministeriums auf die am 13. September 2015 vorgesehene Kontrolle der Grenze nach Österreich inklusive Zurückweisung illegaler Migranten detailliert vorbereitet.

Über diese Grenze kamen und kommen die meisten. Die demonstrative Grenzschließung hätte einen Dominoeffekt in Richtung Süden bewirken sollen. Österreich, Italien und vor allem die Länder auf der sogenannten Balkanroute, so der Plan, hätten ihrerseits ihre Grenzen kontrolliert und die bis dahin übliche Praxis des Durchwinkens der Migranten nach Norden beendet.

Die Zuwanderungswelle wäre an den EU-Außengrenzen gestoppt worden. So, wie es die seit 2015 ignorierten Dublin-Regeln der Europäischen Union eigentlich vorsahen – und immer noch vorsehen. Und so, wie es mit der gegen den Willen von Kanzlerin und Bundesregierung erfolgten Grenzschließung in Mazedonien ab Februar 2016 und mit dem von Angela Merkel im März desselben Jahres eingefädelten und mit sechs Milliarden Euro erkauften Flüchtlingsdeal mit der Türkei zumindest teilweise erreicht wurde.

2017 kamen daher „nur“ 187.000 Asylsuchende nach Deutschland. Eine Zahl, die Innenminister de Maizière am Dienstag stolz verkündete. Eine Zahl, die erstaunlich genau unterhalb der von der CSU seit Langem geforderten Obergrenze von 200.000 Migranten liegt. Eine Zahl, die jedoch der Einwohnerschaft einer Stadt wie Mainz entspricht. Jedes Jahr. Mit Einwohnern, die überwiegend muslimisch, jung und männlich sind, die die deutsche Sprache und Kultur nicht kennen und in der Mehrzahl über nur geringe Bildung oder berufliche Qualifikation verfügen. 200.000 Menschen, die meist kommen, um zu bleiben, die Wohnungen, Schulplätze und Arbeitsstellen benötigen und die früher oder später das Recht auf Nachholung ihrer Angehörigen wahrnehmen werden. Jedes Jahr. Zusätzlich zu den 1,4 Millionen Migranten, die seit 2015 gekommen sind.

Und nicht nur diese Zahlen, auch die demografische und religiöse Struktur der Zuwanderer sind Faktoren. Generell gilt, dass etwa 80 Prozent der seit Herbst 2015 nach Deutschland kommenden Zuwanderer Muslime sind. Die meisten von ihnen sind männlich. Detaillierte Zahlen für 2017 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit Stand Ende November veröffentlicht. In diesem Zeitraum wurden fast 185.000 Asylerstanträge erfasst. 112.000 davon von Jungen und Männern, was einem Anteil von 60,6 Prozent entspricht.

Von diesen männlichen Zuwanderern sind 95.400 unter 35 Jahre alt: ein Anteil von 85,2 Prozent. Die größte Gruppe bilden die 18- bis 25-Jährigen mit einem Anteil von 13,7 Prozent aller Zuwanderer. Zum Vergleich: In der Gesamtbevölkerung Deutschlands lag der Anteil junger Männer inklusive bereits länger hier lebender Migranten zwischen 18 und 24 Jahren bei etwa 3,8 Prozent. Da junge Männer bekanntlich die gefährlichste Spezies der Welt sind, ist schon jetzt abzusehen, was das für die Entwicklung der Gesellschaft bedeutet.

De facto kann jeder einwandern

Zweieinhalb Jahre nach Beginn der Krise machen sich die Folgen der unkontrollierten Einwanderung nun auch im realen Alltag verstärkt bemerkbar: in den Kitas, den Schulen, in der Kriminalitätsstatistik, in den Schlangen der Hartz-IV-Center, auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt. Gerade auf dem in Großstädten schon jetzt extrem überhitzten Mietsektor konkurrieren die noch immer von der Politik meist „Flüchtlinge“ genannten Menschen unmittelbar mit der Kernwählerschaft von Sozialdemokraten und Linkspartei um die wenigen staatlich subventionierten Wohnungen.

Die Parteienlandschaft ist als Folge der Migrationsdebatte eher unübersichtlich geworden. Kein Wunder, dass alle geradezu panische Angst vor Neuwahlen haben, in denen die Migrationsfrage erneut das inoffizielle Thema Nummer eins wäre.

Etwa die Tatsache, dass von den seit 2015 ins Land gekommenen 1,4 Millionen Zuwanderern weniger als ein Prozent Asyl als „politisch Verfolgte“ entsprechend den Bestimmungen des Grundgesetzes erhalten haben. Alle anderen wurden und werden nach den Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention oder aus anderen humanitären Gründen aufgenommen, klagen gegen mit vom Staat bezahlten Anwälten und vom Staat bezahlten Gerichtsverfahren durch die Instanzen gegen abgelehnte Asylbescheide, erhalten für die Verfahrensdauer sogenannte Duldungen und werden oft nicht abgeschoben, weil sie ihre Herkunft verschleiern oder die Herkunftsländer die Rücknahme ihrer Bürger verweigern.

Am Ende können sie meist so lange in Deutschland bleiben, wie sie wollen. Aus dem gut gemeinten und im Grundgesetz verankerten Asylrecht wurde so de facto ein Einwanderungsrecht für jeden.

Über 250.000 Migranten sind derzeit in Deutschland eigentlich ausreisepflichtig, weil ihre Asylanträge abgelehnt wurden. Die Mehrzahl von ihnen verfügt über eine „Duldung“, die regelmäßig erneuert wird. Nach Abschluss der noch ausstehenden Asylentscheidungen aus der Zuwanderungswelle seit 2015 werden nach internen Prognosen der Bundespolizei in diesem Jahr voraussichtlich 250.000 weitere Ausreisepflichtige hinzukommen.

„Das ist eine halbe Million abzuschiebende Ausländer bei derzeit exakt 398 Abschiebehaftplätzen in ganz Deutschland“, klagt ein hoher Beamter der Bundespolizei, der nach zahlreichen Maulkorbanweisungen aus dem Bundesinnenministerium lieber anonym bleiben möchte, im Gespräch mit WELT AM SONNTAG. „Das macht doch den ganzen Irrsinn der derzeitigen Situation deutlich.“

In Berlin und Brandenburg gebe es aus politischen Gründen keinen einzigen Abschiebehaftplatz. „Dabei verlassen uns nur die Wenigsten freiwillig“, weiß der gelernte Grenzschützer aus seiner Praxis. Für das vergangene Jahr weist das Bundesinnenministerium trotz Erhöhungsversprechen der Kanzlerin gerade 26.000 Abschiebungen und 30.000 freiwillige Ausreisen aus. Weniger als im Jahr zuvor.

Auf Wunsch vor allem der CSU hat die Union immerhin den Satz in die Sondierungen geschrieben, dass man nicht mehr als 1000 Menschen pro Monat, also 12.000 im Jahr, den Familiennachzug gewähren wolle. Wie das angesichts einschlägiger, entgegenstehender völkerrechtlicher Verpflichtungen – etwa der UN-Kinderrechtskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention – auf Dauer umgesetzt werden soll, erläutert das Papier nicht. Auch dazu, dass das Bundesinnenministerium in internen Berechnungen von derzeit bereits 680.000 Zuwanderern in Deutschland ausgeht, die einen solchen Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung besitzen, findet sich in dem Papier kein Wort.

Wolkige Phrasen

Dafür gibt es wolkige Phrasen im Überfluss. „Wir wollen die Fluchtursachen bekämpfen, nicht die Flüchtlinge“, halten die GroKo-Aspiranten auf Seite 20 ihres Sondierungsberichts fest. Und sie wissen dort auch schon ganz genau, wie das funktioniert: durch mehr Engagement für Friedenssicherung, verstärkten Klimaschutz und restriktive Rüstungsexportpolitik und, nicht zu vergessen, natürlich durch Einrichtung einer Kommission im Bundestag.

Die triste Realität sieht so aus, dass die Bundespolizei nur an der 800 Kilometer langen Grenze zu Österreich als einziger der insgesamt neun deutschen Landgrenzen regelmäßige Kontrollen durchführen darf. Dazu gibt es Überprüfungen an drei Autobahnübergängen und weitere stichprobenartige Kontrollen von mutmaßlichen Schleuserfahrzeugen an einzelnen weiteren, wechselnden Punkten in einem Bereich bis zu 30 Kilometer landeinwärts der deutschen Grenze. „De facto ist diese Grenze trotz unserer Präsenz völlig offen“, klagt der Polizeiführer.

500 bis 800 illegale Zuwanderer würden dort Tag für Tag dennoch von den Bundespolizisten aufgegriffen. 80 Prozent von ihnen behaupteten, keinerlei Pässe oder andere Identitätsnachweise bei sich zu haben. „Aber sobald sie das Zauberwort Asyl sagen, dürfen wir sie auf Weisung des Bundesinnenministers nicht zurückweisen, obwohl die deutschen Gesetze das verlangen“, berichtet der Beamte frustriert.

Die Zuwanderer werden von der Bundespolizei mit den Personalien, die sie angeben, registriert, ihre Fingerabdrücke und Fotos werden genommen, danach werden sie in Erstaufnahmeeinrichtungen gebracht. Nur etwa 20 bis 30 jener 500 bis 800 täglich aufgegriffenen Migranten äußerten gegenüber den Bundespolizisten keinen Wunsch nach Asyl, zitiert der Beamte aus internen Statistiken.

Vermutlich weil sie von ihren Schleusern nicht richtig instruiert worden seien. „Diese 20 bis 30 dürfen wir abweisen und nach Österreich zurückbringen“, sagt der Beamte im Gespräch mit WELT AM SONNTAG. „Danach ziehen die meisten von denen wahrscheinlich nach Westen weiter und kommen einfach über die Schweiz nach Deutschland, dort dürfen wir nicht kontrollieren“, fügt der Polizeiführer resigniert hinzu.

Nach den internen Aufstellungen der Bundespolizei, die diese nicht an die Öffentlichkeit geben darf, „greifen wir bei unseren Kontrollen maximal 25 Prozent der illegalen Zuwanderer ab“, rechnet der Beamte vor. „Wir bekommen an einem einzigen Tag mehr neue Zuwanderer nach Deutschland hinein, als wir im ganzen Monat aus Deutschland hinausbekommen“, betont der Polizist, der jeden Tag die Lagemeldungen aus allen Bundespolizeidirektionen auf den Schreibtisch bekommt, „und diese Entwicklung wird auch nach dem jetzigen Sondierungsstand unverändert bleiben.“

In der Führung der Bundespolizei herrsche die übereinstimmende Erkenntnis, dass die im vorliegenden GroKo-Sondierungspapier und auch schon bei Jamaika anstelle von Zurückweisungen an der Grenze favorisierten Rückführungen aus den „Anker-Zentren“ genannten Sammelstellen für Asylbewerber im Landesinneren in der Praxis nicht funktionieren werden. „Das ist schon rechnerisch, aber auch rechtlich völliger Schwachsinn“, formuliert es der hohe Beamte drastisch, das wisse man sowohl im Innenministerium als auch bei den GroKo-Sondierern ganz genau. Die Bevölkerung werde schlicht für dumm verkauft.

Schon die offiziell derzeit etwa 15.000 Zuwanderer im Monat ließen sich nicht ohne Zwang in diesen vereinbarten zentralen Aufnahmestellen festhalten. Erst recht nicht, wenn sie aus jenen Ländern kämen, deren Bürger kaum Aussicht auf Asyl haben, wie aus Marokko oder Tunesien. „Sollen diese Zentren umzäunt werden? Werden sie neu gebaut? Wie lange soll das dauern? Was ist mit den bald 500.000 ausreisepflichtigen Altfällen? Sollen die auch in diese Zentren?“, fragt der Beamte und schüttelt zornig den Kopf.

„Wenn man die Leute nicht festhält, machen diese Zentren keinen Sinn. Um sie festzuhalten, brauchen Sie nach der Rechtslage ab dem zweiten Tag einen haftrichterlichen Beschluss. In jedem Einzelfall. Es ist völlig ausgeschlossen, dass das jemals umgesetzt werden kann.“ Nicht bei 15.000 Neuzugängen im Monat. Erst recht nicht bei 500.000 Altfällen. Ohne Zurückweisungen an der Grenze gehe es schlicht nicht: „Wer die Grenze aufgibt, kann die innere Sicherheit nicht gewährleisten, der gibt am Ende das Land auf.“

Drittstaatenregelung wird gestrichen

Bei der möglichen GroKo 2.0 klingt das im Sondierungspapier etwas anders: „Wir treten ein für ein gemeinsames europäisches Asylsystem einschließlich eines fairen Verteilmechanismus für Schutzbedürftige.“ Und dieses beschriebene gemeinsame EU-Asylsystem ist gerade erst – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – einen wichtigen Schritt vorangekommen. Am 16. November hat das Europaparlament in Straßburg einer Reform der seit Jahren ignorierten Dublin-Regeln zur Migrantenverteilung zugestimmt – und die Schleusen noch weiter aufgemacht. Mit den Stimmen auch von deutschen EU-Abgeordneten aus CSU, CDU und SPD. Die sächsische EU-Parlamentarierin der Linken, Cornelia Ernst, hatte die Neuregelung im Bürgerrechtsausschuss mit ausgehandelt. Sie freut sich seither auf ihrer Homepage über „die ambitionierteste Parlamentsposition in der Asylpolitik, die je beschlossen wurde“.

Die Kernpunkte der Änderungen haben es gerade für Deutschland, das Hauptziel der Masseneinwanderung, in sich. Die Drittstaatenregelung wird gestrichen. Bei jedem Zuwanderer, der eine besondere Beziehung zu einem EU-Staat – zum Beispiel Deutschland – besitzt oder dort Angehörige hat, wird dieser Staat automatisch zuständig für den Asylantrag. Eine Überprüfung ist vorab nicht vorgesehen. Die bloße Behauptung des Asylbewerbers, zum Beispiel in Deutschland Angehörige zu haben, genügt als Beleg.

Künftig sollen zudem – um die schon vor Aufbruch aus dem Heimatland bestehenden oder auf der Anreise nach Europa entstandenen sozialen Beziehungen der Migranten nicht zu beeinträchtigen – Asylbewerber ihre Anträge in Gruppen von bis zu 30 Personen stellen dürfen. Falls Beziehungen in ein bestimmtes Land, zum Beispiel Deutschland bestehen, eben in Großgruppen dort. Jetzt muss noch der Europäische Rat diesem Beschluss des EU-Parlaments zustimmen, bevor er rechtskräftig wird. Das scheint schon auf gutem Weg zu sein, denn in dem Abschlusspapier der GroKo-Sondierer ist verdächtig oft die Rede von „EU-Recht, das zu beachten sei“, ohne ins Detail zu gehen.

Doch auch deutsche Politiker und Parteien werden sich auf Dauer nicht hinter hehren Absichten und komplizierten juristischen Konstruktionen verstecken können. Die Realitäten zu verleugnen kann auf Dauer nicht gut gehen. Nicht in Sondierungsgesprächen, nicht in Koalitionsverhandlungen und schon gar nicht in der Regierungspraxis. Und in Wahlen erst recht nicht.

https://www.welt.de/politik/deutschland/article172672565/Deutsche-Fluechtlingspolitik-Ausgeblendete-Realitaeten.html